Norbert Leygraf ist seit fast 40 Jahren Forensiker

„Da hab ich auch mal geheult“

  • von Ulrike Bohnsack
  • 13.12.2018

Norbert Leygraf begutachtet Menschen, die Grausames getan haben. Sein Blick aufs Leben ist dennoch positiv.

„Unser Vater ist wieder im Knast“, flachsten seine Kinder früher, wenn er Kinderschänder, Mörder oder andere Gewaltverbrecher traf. Mittlerweile ergründet Norbert Leygraf seit 38 Jahren, was Menschen zu ihren Taten treibt und ob sie es wieder tun würden.

Laborarzt hatte er eigentlich werden wollen. Jetzt ist er eine Größe in der Forensischen Psychiatrie, tritt bei aufsehenerregenden Strafverfahren auf –und sagt bescheiden: „Ich habe das Glück, mir meine Fälle aussuchen zu können.“ Nichts Dünkelhaftes hat er an sich; sein Blick seziert sein Gegenüber nicht hinunter bis in die Seele. Vielmehr wirkt der 65-Jährige wie der nette Herr von nebenan. „Ein toller Chef“, sagt eine Mitarbeiterin traurig – denn Norbert Leygraf geht.

Unpersönlich ist sein Büro. Der Professor hat schon aufgeräumt. 27 Jahre war er Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie. „Im Herbst bin ich in den Ruhestand gesegelt“, sagt er lächelnd. Auf seinem Boot kann er gut abschalten von seiner Arbeit. In menschliche Abgründe schauen wird er für die Gerichte weiterhin.

1.600 Fälle
Kann man diesen Beruf wirklich lieben? „Ich finde ihn spannend“, antwortet er. „Mich interessiert, was in anderen vorgeht. Bei jeder Exploration, so heißt das Gespräch mit dem Straftäter, bin ich neugierig, was das für ein Mensch ist, sei es die betuchte Kleptomanin oder der sadistische Serienmörder.“ Seit einigen Jahren hat Leygraf es mehr mit islamistischen Terroristen zu tun – und mit missratenen Priestern. „Die sind ein Gegenklientel zu den anderen Tätern.“

Insgesamt 1.600 Fälle haben er und sein Team bislang begutachtet. Was sollte man dafür können, was besser nicht tun? „Man muss in der Lage sein, sich auf Menschen einzustellen, die Schreckliches getan haben“, erklärt der Forensiker. „Ich gehe natürlich die Akten durch. Aber ich schaue mir keine Tatortbilder an, nicht vor dem ersten Gespräch. Das habe ich einmal gemacht bei einem Kindermörder. Danach war es vorbei. Ich war voreingenommen, was nicht geht. Der Täter hat ein Recht darauf, dass ich mir Mühe gebe, ihn zu verstehen.“

Ruhig kommen seine Antworten und unmissverständlich, nie wirken sie routiniert. Während Norbert Leygraf spricht, liegt die linke Hand still, die rechte, eine Tasse umfassend, schwingt oft im Takt seiner Worte. „Am Emotionalsten sind Gutachten, wo Kindern was passiert ist. Wenn es den Tätern nicht nahegeht, was sie gemacht haben, und man spürt das, das ist schwer zu ertragen.“

Wie schafft man es dennoch? „Man muss versuchen, vieles im Abstrakten zu lassen und sich den Tatablauf nicht bildlich vorzustellen.“ Und natürlich dürfe man das Berufliche nicht mit nach Hause nehmen. Das gelinge ihm sehr gut. „Wenn ich Feierabend habe oder Urlaub, kann ich sofort abschalten. Dann ist es wie nach dem ersten Schluck Bier: Die Arbeitsstimmung ist dahin.“ Ganz selten nur war er nach einem Termin nervlich am Ende. „Dann hab ich auch mal geheult.“

"Für die Täter bin ich einen Art Beichtvater"
Kann ihn nach fast 40 Berufsjahren überhaupt noch etwas aus der Fassung bringen? Er überlegt. „Boshaftigkeit. Wenn ich den Eindruck habe, das macht jemand nicht aus Schwäche oder einem Leiden heraus, sondern aus Spaß, um andere zu verletzen.“

95 Prozent der Häftlinge in Deutschland sind Männer, weshalb Leygraf findet: Frauen begehen keine Verbrechen. Reden wollen sie im Übrigen fast alle. „Die meisten sind froh, dass jemand vorurteilsfrei mit ihnen spricht. Bei vielen ist man der erste, der zuhört. Oft haben sie selbst Schreckliches erlebt und leiden unter ihren Taten, auch wenn das unglaublich erscheinen mag.“ Leygraf sagt: „Für die bin ich eine Art Beichtvater – ohne diesen moralischen Aspekt.“

Versteht er Körpersprache, kann er Gesten und Mimik lesen? „Ich hab mal behauptet, dass ich das könnte. Bei Menschen aus anderen Kulturen bin ich vorsichtig. Denn meine Erfahrung mit der Begutachtung von Islamisten hat mir gezeigt: Sie können einem perfekt was vormachen. Die Lüge ist für sie keine Lüge, sondern eine Waffe gegenüber Ungläubigen. Das war am deutlichsten bei dem so genannten Kofferbomben-Attentäter – ein Typ Schwiegersohn. Erst in der Hauptverhandlung kam heraus, was alles gelogen war.“

Emotionale Fallstricke
Die Exploration von Terroristen – 75 sind es mittlerweile – findet er besonders spannend, allein wegen des anderen Umfelds: Die Fälle werden vorm Oberlandesgericht verhandelt, die Bundesanwaltschaft ist involviert, und er trifft mit anderen Sachverständigen, etwa Islamismusforschern, zusammen. „Man lernt dazu.“

Geirrt hat er sich als Gutachter so gut wie nie. Zum Glück. Ein Restrisiko bleibt, das ist ihm bewusst. Bei Prognosen, also wenn es darum geht, ob jemand wieder entlassen wird, gilt deshalb das Mehraugenprinzip: Die Fälle werden immer mit anderen durchgesprochen. „Es gibt emotionale Fallstricke, über die man stolpern kann. Auch nach fast 40 Jahren.“

Lust, Wut, Hass, Gier, Verzweiflung, Wahn... Täter handeln aus unterschiedlichsten Motiven. Manche sind psychisch krank, andere persönlichkeits- oder sexuell gestört. Bekommt der Glaube ans Gute nicht einen Knacks, wenn man immer wieder in seelische Untiefen blickt? Nein, widerspricht Norbert Leygraf nachdrücklich. „Ich habe aber schon eine etwas andere Haltung entwickelt im Laufe der Zeit. Als ich damals in der Allgemeinen Psychiatrie anfing, meinte ich noch, dass man alles erklären kann. Da bin ich heute ein Stück von runter. Es gibt einfach Menschen, die sind böse.“

 

Zur Person:
Norbert Leygraf (65) ist Professor für Forensische Psychiatrie. Von 1991 bis zum Herbst 2018 leitete er das gleichnamige Institut an der UDE. Er war Gutachter in vielen aufsehenerregenden Prozessen, darunter im NSU- sowie im Metzler-Prozess. Er hat den Mädchenmörder Ronny Rieken beurteilt, den „Satanisten-Mörder“ Ruda, Geiselnehmer Dieter Degowski oder jüngst den Islamisten Motassadeq, ein 9/11-Terrorhelfer.
Leygraf ist seit 2002 außerdem für die katholische Kirche tätig, um die pädophile Neigung von Geistlichen einzuschätzen.

 

 

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