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Essen ist mehr als satt werden

Ein Klebstoff für soziale Bindungen

  • von Ulrike Bohnsack
  • 15.08.2019

Gegessen wird immer, darüber geredet auch. Die halbe Welt fotografiert und postet, was auf ihrem Teller liegt; die Auswahl an Kochbüchern, -magazinen und Food-Blogs ist erschlagend; im TV brutzeln Köche um die Wette und klären Ernährungs-Docs auf. Warum sollte das anders sein? Für den Menschen ist es nun mal lebensnotwendig, seinen Körper zu nähren; auch Wohlbefinden und Psyche danken es.

Dr. Claudia Schirrmeister nennt allerdings einen anderen Grund, warum Essen als Thema seit Jahrzehnten boomt: „Es ist ein wesentlicher Teil unserer Identität. Darüber, was, wo und mit wem ich esse, kann ich meine Persönlichkeit ausdrücken und gleichzeitig zeigen, zu welcher sozialen Gruppe ich gehöre. So wie mit meiner Kleidung auch.“ Bewusst oder unbewusst teile man Wohlstand, Religionszugehörigkeit, Kulturkreis, moderne bzw. traditionelle Haltungen und mehr mit.

Du bist, was Du isst

Vieles, was wir heute als Esskultur sehen, hat eine lange Geschichte, anderes ist Folge eines Wertewandels. In der Renaissance galt uneingeschränkt: Du bist, was du isst. Der Adel demons­trierte seinen hohen gesellschaftlichen Status durch die Köstlichkeiten, die er auffahren ließ. Gleichzeitig bot er was fürs Auge: präsentierte Speisen spektakulär, deckte kostbares Porzellan und Besteck. Wer zum höheren Stand gehörte, wusste um die Etikette bei Tisch – angefangen bei der Konversation und dem Essverhalten bis zur Disziplinierung des Körpers. Sich kratzen, furzen, andere anstarren und dergleichen war verpönt.

„Auch das gemeine Volk aß, aber eben vom Einfachsten und ohne die aristokratische Choreo­graphie“, sagt die Kommunikations­wissenschaft­lerin. Oft hieß das, gemeinsam aus einem Topf und bar jeder Benimmregel.

Und heute? Verspeist der Manager neben dem Arbeiter auf der Straße Currywurst (noch bis ins Deutsche Kaiserreich galt es als ordinär, auf der Straße zu essen); sind Delikatessen wie Trüffel oder Jakobsmuscheln im Discounter zu haben und verlieren damit den Nimbus des Luxuriösen.

Sind beim Essen alle gleich?

Verschwimmen dadurch auch die sozialen Unterschiede? „Nein“, sagt Schirrmeister. „In unserer Überflussgesellschaft ist zwar fast alles für nahezu jeden verfügbar, und wenig ist tabu. Die Industrialisierung hat Essenszeiten und Traditionen wie die gemeinsamen und den Tag strukturierenden Mahlzeiten aufgelöst. Nahrung ist rund um die Uhr zu haben. Es gibt Sushi-Taxis, Imbissbuden und 3-Sterne-Lokale, Fertiggerichte und Gourmet-Rezepte. Rasche Bedürfnisbefriedigung steht neben Genuss. Und trotzdem wird sich sozial abgegrenzt, mit dem, wie und was man zu sich nimmt.“

Statussymbol Küche

Auf verschiedenen Ebenen: „Wer zur besseren Gesellschaft gehört, weiß beispielsweise, wie Hummer gegessen wird, in welcher Reihenfolge das Besteck zu benutzen ist oder welcher Wein zum Essen passt.“ Es wird in Restaurants diniert, die sich nicht jeder leisten kann. Die Küche ist ein wichtiges Statussymbol – auch wenn in manchen noch nie gekocht wurde. „Und wenn alle Welt Trüffel aus dem Supermarkt kauft, beziehe ich ihn über das Delikatessengeschäft und aus einer bestimmten Region; Fleisch bestelle ich natürlich beim Edelmetzger. Will ich das noch toppen, mache ich es eben exklusiver, indem ich es vergolde. In bestimmten Wohlstandsgruppen ist das grundsätzlich die oberste Kategorie: Gold.“ Schirrmeister findet, es sei menschlich, sich abheben zu wollen, auch wenn diese Art zu protzen ihr fremd ist.

Heute gelte generell: Das Gewöhnliche ist out. Es wird angerichtet, verziert, dekoriert, verpackt – kurzum: ästhetisiert und zelebriert. Sie sagt: „Essen ist eine Inszenierung mit dem Koch als Regisseur. Das fängt bei vollendeten Gastgebern an, geht über das Ambiente – Kerzen, Blumen, perfekt gedeckte Tafel – und setzt sich spielerisch auf dem Teller fort: Die Speise wird zu einem alle Sinne ansprechenden Bild, weshalb man sie so gerne fotografiert.“

Symbolische Glasur

Diesen Erlebnisfaktor gab es schon immer. Aus der Römerzeit ist überliefert, dass lebende Drosseln aus dem Bauch des servierten Wildschweins flogen. Später, bei den höfischen Banketten, waren es dann feuerspeiende Vögel, mit denen der Küchenmeister sein Können zeigte – und die Tischgesellschaft in Staunen versetzte.

Die Sprache ist Teil des Spiels. Nicht nur das Weinvokabular steckt voller semantischer Verweise und mitunter skurriler Vergleiche. Auch auf dem Teller muss das Besondere hervor­gehoben werden: Dialog von Lachs, Liaison von weißer Schokolade und Ananas, Feldsalat-Cappuccino ... Symbolische Glasur nennt die Kommunikationswissenschaftlerin das. „Wird die Steckrübe zur ‚Mousse an Haselnusshippe‘ poetisiert und in einem schönen Ambiente kredenzt, denkt niemand an den Arme-Leute- Eintopf von früher.“

Grillen ist männlich

Ernährung ist Lifestyle, muss Spaß machen und trotzdem gesund sein. Daraus kann eine Glaubensfrage werden: Vegan, Paleo, Detox oder Clean Eating …? Die meisten Food-Trends haben ein kurzes Verfallsdatum; einige Moden kommen – mit neuem Namen – zurück (Low carb). Seit etwa fünf Jahren frönt man einer wiederentdeckten Leidenschaft: Grillen. Archaisch an lodernden Flammen rohes Fleisch zu garen (wenngleich mit kostspieligem Equipment), symbolisiere ‚zurück zum Feuer‘, sagt Claudia Schirrmeister.

Womit wir bei den Geschlechter-Stereotypen wären: Grillen ist natürlich „seine“ Sache, weshalb die dazugehörige Literatur entsprechend aufgemacht ist. Die Forscherin nennt weitere Beispiele für sich hartnäckig haltende Rollen­bilder: „Männer, die kochen, tun das als Profession und werden dafür bezahlt. Frauen stehen hingegen am Herd, um die Familie zu versorgen. Während er es gern deftig mag und sich lustvoll Bier und Steak einverleibt, mag sie es gesund: Obst, Gemüse, Tee. Sie isst kultiviert, nämlich langsam und in kleinen Häppchen.“

Gemeinsam statt einsam

Essen hat eine sozialisierende Kraft: Wer sich mit anderen an einen Tisch setzt, teilt Zeit, Raum und Speisen und erkennt formale Regeln und Kommunikationsrituale an. Durch den kulinarischen Genuss entsteht eine angenehme Gesprächssituation. So festigen Geschäftsleute bei einem gemeinsamen Mahl Beziehungen oder schließen gar Verträge.

Weniger zweckgebunden, sondern aus Geselligkeit isst man mit der Familie oder mit Freunden. Dabei ist die Tischgesellschaft auf Harmonie bedacht. Bestimmte Themen sind tabu. Lieber plaudert man über Unverfängliches, erzählt Geschichten aus seinem Alltag, schmiedet Pläne. Gemeinsam zu speisen, wirkt zivilisierend, stärkt gegenseitiges Vertrauen und den Zusammenhalt. „Essen“, betont Claudia Schirrmeister, „ist ein Klebstoff für soziale Bindung.“ Oder anders ausgedrückt: Zusammen isst man weniger allein.

 

Zur Person:
Claudia Schirrmeister ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin. Der Auslöser, sich mit Esskultur zu beschäftigen, war die Symbolik von Schokolade. Zum Thema hat sie Verschie­denes veröffentlicht, u.a. 2010 das Buch „Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens“.

im Bild:
Essen in netter Gesellschaft – das ist beim jährlichen Dies academicus an der Uni Tradition. HIer ein Bild aus vergangenen Jahren.

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