Wenn Forscher flüchten müssen

Der Kritiker

  • von Cathrin Becker
  • 15.12.2017

Mehmet Rauf Kesici unterzeichnet einen Aufruf für Frieden in den Kurdengebieten. Was er nicht ahnt: Er gefährdet damit seine Karriere – und sich selbst. Heute ist er Stipendiat an der UDE. Ein Rück- und Ausblick. 

Dr. Mehmet Rauf Kesici ist ein vorsichtiger Mensch. Nein, er wolle sich lieber nicht mit uns treffen, um zu erzählen, warum er aus der Türkei flüchtete. Ob es auch per E-Mail gehe?
Natürlich.

'Academics for Peace' und die Folgen
Es beginnt vor knapp zwei Jahren: Im Januar 2016 schließt sich Kesici mit 1.128 türkischen und über 355 internationalen Wissenschaftler/innen zur Initiative ‚Academics for Peace‘ zusammen. In einem offenen Brief kritisieren sie die türkische Regierung für ihre Gewalt gegen Kurden und fordern neue Friedensverhandlungen. Für Präsident Erdogan ist damit klar: Diese Leute sind PKK-Sympathisanten.

Damit fangen für Kesici die Repressalien an: Kurz nach Veröffentlichung des Appells wird er an seinem Arbeitsplatz an der staatlichen Kocaeli Universität in Izmit verhaftet. Er verbringt eine Nacht in U-Haft, wird wieder freigelassen. Aber die öffentliche Hetze ist nicht mehr zu stoppen: Der Bürgermeister fordert die Bestrafung der Unterzeichner; die Lokalzeitung druckt Namen und Fotos des Ökonomen und seiner Mitstreiter. Die Überschrift: Dies sind Verräter und Unterstützer von Terroristen.

Flucht nach Deutschland
Kesici verliert seinen Job als stellvertretender Direktor der Fakultät für Maritime Betriebswirtschaft; die Uni leitet Untersuchungen gegen alle Unterzeichner ein. Zunächst kann er bleiben, aber nur eingeschränkt arbeiten und darf nicht mehr reisen. Dann ereignet sich Mitte Juli der Putschversuch gegen Erdogan, und Kesicis Situation verschärft sich noch einmal: Am 1. September entlässt der Präsident ihn und die anderen Unterstützer des Friedensappells per Dekret aus dem öffentlichen Dienst und erlegt ihnen ein lebenslanges Berufsverbot auf. Am selben Tag fährt Kesici zum Flughafen. Er hat Glück: Sein Pass ist noch gültig, er kann die Türkei verlassen.

Sein Ziel ist Deutschland, seine Frau erwartet ihn. Auch sie hat den Friedensappell unterzeichnet – von hier aus, wo sie schon länger als Stipendiatin forscht. Durch ihre Arbeit hat sie UDE-Professorin Kader Konuk kennengelernt. Beiden Frauen ist klar: Für Mehmet Rauf Kesici gibt es vorerst kein Zurück. Doch wie kann er weiter als Wissenschaftler arbeiten?

Einer von 124 Wissenschaftlern
Die Philipp-Schwartz-Initiative ist die Lösung. Sie wird von der Alexander von Humboldt-Stiftung und dem Auswärtigen Amt getragen und ermöglicht es Hochschulen und Forschungseinrichtungen, geflüchtete Wissenschaftler/innen aufzunehmen.

Also entwickelt Kader Konuk, Direktorin des Instituts für Turkistik, ein Konzept, wie sich Kesicis Schwerpunkte in die Forschung einbinden lassen, und schlägt ihn als einen der ersten Kandidaten für die UDE vor. Kesici wird als Stipendiat anerkannt. Damit ist er einer von 124 Wissenschaftler/innen, die die Initiative fördert – Tendenz steigend.

Zwei Jahre werden Kesici und fünf weitere Geflüchtete an der UDE unterstützt. Sie kommen aus der Türkei, Syrien und Pakistan. Während in der ersten Auswahlrunde die meisten Nominierungen für Wissenschaftler/­innen aus Syrien eingereicht wurden, sind es in der zweiten und dritten Runde hauptsächlich türkische, die Hilfe brauchen. Die Stipendien sollen ihnen helfen, im deutschen Wissenschaftssystem Fuß zu fassen. Welt­offen, wie es ist, kann es den akademischen Dialog über Ländergrenzen hinweg aufrechterhalten und mit wissenschaftlicher Sachlichkeit Brücken bauen, so hofft die Initiative.

Die Brücke in die Türkei ist für Kesici nie eingestürzt. Er hält Kontakt zu seinen früheren Kollegen/innen. Ihren Beruf als Dozierende können sie nicht mehr ausüben, aber ihre Forschung betreiben sie weiter. Außerhalb der Uni. Gemeinsam haben sie eine alternative Einrichtung gegründet – die Kocaeli Academy for Solidarity. Wöchentlich bieten sie via Skype eine kritische Seminarreihe an.

Lehren und forschen im Exil
Professor Kader Konuk kann sich gut in Kesici und seine Kolleg/innen hineinversetzen. Die türkischstämmige Literaturwissenschaftlerin unterstützt ebenfalls den Friedensappell und war seit 2014 nicht mehr in der Türkei. Auch sie gilt dort als Feindin und Terror­unterstützerin.

Mit ihrer Nominierung hat sie Mehmet Rauf Kesici eine Perspektive gegeben. Der 41-Jährige hat sich inzwischen in Essen eingelebt. Als Experte für Sozialpolitik, europäische Arbeitsmärkte, Arbeitsmigration und politische Ökonomie forscht er aktuell zu Kurden und Türken im Ruhr­gebiet und unterstützt aus seinem Exil weiter die ‚Academics for Peace‘. Ob er als Kurde und kritischer Wissenschaftler jemals in sein Heimatland und zu seiner Familie zurückkehren wird? Zurzeit kann er sich das nicht vorstellen. 

Ein Interview mit Dr. Mehmet Rauf Kesici in Englisch finden Sie hier:  udue.de/interviewkesici

 

Über die Akademie im Exil

Hier sollen bedrohte Wissenschaftler/innen aus der Türkei ohne Druck und Einschränkungen forschen und lehren können. Zehn Stipendien will die ‚Academy in Exile‘ pro Jahr vergeben.

Gegründet wurde die Akademie vom Institut für Turkistik, dem Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) und dem Forum Transregionale Studien. Leiterin ist UDE-Professorin Dr. Kader Konuk.

Die Initiative wird von der VolkswagenStiftung gefördert und zunächst in Essen und Berlin auf­gebaut.
Mehr: udue.de/exilakademie

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