Prof. Dr. Claus Leggewie

In (nicht nur) eigener Sache

Wissenschaftfreiheit in "postfaktischen" Zeiten

  • von Prof. Dr. Claus Leggewie
  • 30.06.2017

«Wahr» und «Falsch», das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende"  (Robert Musil)

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Kulturwissenschaften im modernen Sinne haben sich in der krisenhaften Zeit des „fin de siècle“ um 1900 als eine fächerübergreifende Wissenskonstellation herausgebildet. Kultur gab es natürlich zuvor, sie war sozusagen alles – man nehme das griechische Theater, die Gesamtkunstwerke der Renaissance, die großen Komponisten. Und dann war da noch die Theologie, die sich gegen den wachsenden, rationalisierenden Einfluss der Naturforschung verteidigte. Die Soziologie war ein Nachkömmling in dieser Ausdifferenzierung von Wissenschaft; auch sie richtete sich an den strengen Wissenschaften aus und wollte Gesetzmäßigkeiten ergründen, betrieb aber alsbald auch etwas, das man Zeitdiagnose nennen sollte. Darin kann man eine Hauptaufgabe der Kulturwissenschaften sehen, die soziologische Kritik, Aufklärung und Fantasie in sich aufnahm.

Sicher war die Welt niemals. Um 1900 war sie aber wieder einmal besonders unsicher geworden in dem Sinne, dass der im 19. Jahrhundert gewachsene Fortschrittsoptimismus an Überzeugungskraft verlor und Sicherheiten, die Aufklärung, Wissenschaft und auch Staatenordnungen geboten hatten, problematisch wurden. Eben in diesem Problematisch-Werden liegt das Hauptmotiv kulturwissenschaftlicher Zeitdiagnose, die an den symbolischen Dimensionen der Wirklichkeit ansetzt und den Orientierungsverlust zu bearbeiten sucht, den Menschen in einer nicht mehr so sicheren Welt empfanden und sich unter dem Topos „Dialektik der Aufklärung“ klar machten. Das Hauptgebiet dieser Selbsterkundung war Europa, das nun, auf dem Höhepunkt seiner imperialen Machtfülle, bereits als Alte Welt empfunden wurde. Der Erste Weltkrieg sollte die sich verdichtende Krisenlage in eine Katastrophe münden lassen, der Zweite hat seine Existenz fast vernichtet und Europa in den Worten Stefan Zweigs als „Welt von gestern“ erscheinen lassen.

Wenn Kulturwissenschaften also Krisendiagnose betreiben, sind sie ein Jahrhundert später wieder zeitgemäß. Wenn in Alltagsgesprächen und Podiumsdiskussionen behauptet wird, heutzutage sei wohl „alles möglich“, dann assoziiert man damit freilich weniger hoffnungsfrohe Zukunftszuversicht und Fortschrittsvertrauen, schon gar keine Gesellschaftsutopien, sondern eher dystopische Bilder zerfallender Ordnungen, schwindenden Vertrauens, schwankenden Grunds: Grand Hotel Abgrund 2.0, dieses Mal symbolisiert durch die De-Naturierung der natürlichen Umwelt und den generalisierten Bürgerkrieg mit Mitteln ubiquitären Terrors. Das Schwinden von Gewissheiten wird vor allem mit dem Eintritt in paranoide und propagandistische Relativierungen verbunden, die wiederum mit dem Modebegriff „Fake“ oder „postfaktischen“ Wahrheiten umschrieben werden. Es ist nicht angebracht, danach nun gleich ein ganzes Zeitalter zu taufen, aber das Phänomen verdient gleichwohl eine kulturwissenschaftlich angeleitete Zeitdiagnose.

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Wissenschaft ist primär der Suche nach der Wahrheit verpflichtet und bedient sich dazu intersubjektiv nachvollziehbarer Methoden. Und Wissenschaft hat ihr Fundament in der Wirklichkeit. So sehr deren Interpretation unter Beobachtern auseinandergehen mag, ist sie doch nicht in einem vulgären Sinne „konstruiert“, also jedem nur denkbaren Zugriff ausgesetzt, sie wird vielmehr verbürgt in sozialen Institutionen wie dem Recht, der öffentlichen Urteilskraft, gestützt auf eine freie Presse, und nicht zuletzt durch wissenschaftliche Verifizierung. Mit der Proklamation eines postfaktischen Zeitalters träte, auch wo das kritisch gemeint ist, ein verheerender Zirkelschluss ein, der Verschwörungstheorien eigen ist.

Was einer Person oder Bewegung nicht ins Weltbild oder ihr strategisches Konzept passt, wird umstandslos zu „fake“ erklärt, während alles, was hineinpassen soll, unerschütterlich wahr, wirklich und wirkungsmächtig sein soll. Ex cathedra werden dreiste, zum Teil nachträglich mit einem Lächeln eingeräumte „Irrtümer“ als Wahrheiten verkündet, anderes starrsinnig als „fakenews“ denunziert und entsprechend aussortiert – so neulich im Rosengarten des Weißen Hauses, das Forschungsergebnisse wie zum anthropogenen Klimawandel, die ein Höchstmaß an Evidenz für sich reklamieren können, als Hokuspokus beiseite schiebt.

Beides, die dreiste Lüge politischer Autoritäten wie die Leugnung wissenschaftlicher Tatsachen, ist natürlich nicht neu. Im White House wurde auch vor Donald Trump gelogen, Fälschungen sind so alt wie die Wissenschaft. Problematisch wäre nur, wenn ob solcher Verstöße gegen das Gebot der Wahrhaftigkeit und Objektivität selbiges gleich ganz aus dem Verkehr gezogen würde und nunmehr wirklich „alles geht“. Der Physiker Edward Kaeser hält dagegen: „Nietzsches berühmtes Wort hallt wider, dass es nur Interpretationen, keine Fakten gebe."  Oder wie es im Englischen heißt: ‚Facts are factitious‘ – Fakten sind Artefakte, sie sind künstlich.

Diese Ansicht ist quasi das Amen des postmodernen Denkens. Und als besonders tückisch an ihr entpuppt sich ihre Halbwahrheit. Es stimmt, dass Fakten oft das Ergebnis eines langwierigen Erkenntnisprozesses sind, vor allem heute, wo wir es immer mehr mit Aussagen über komplexe Systeme wie Migrationsdynamik, Meteorologie oder Märkte zu tun bekommen. [...] Aber Künstlichkeit des Faktischen bedeutet nun gerade nicht Unverbindlichkeit. Dieser Fehlschluss stellt sich nicht nur für die Erkenntnistheorie als ruinös heraus, sondern vor allem auch für die Demokratie.“

Deshalb gilt: Aus einer abweichenden Meinung zum Klima wandel, die wegen dieses Alleinstellungsmarkmals oft eine geradezu heroische Aura bekommt, folgt nicht die Unrichtigkeit 99 anderer Positionen. Man darf Wissenschaft und Politik nicht als Veranstaltungen missverstehen, bei denen alle gleichermaßen im Nebel stochern, bis auch der letzte Zweifel beseitigt ist, den im Übrigen bezahlte und unbezahlte „Händler des Zweifels“ in Umlauf gesetzt haben. Der Interessenhintergrund der in den USA geübten Klima- und Energiepolitik ist unschwer zu durchschauen. Eine der ersten Maßnahmen der Trump-Administration war die Ausweidung der Environment Protection Agency (EPA), die dem Bundes-Umweltministerium zuarbeitet und Forschung finanziert. An ihre Spitze stellte Trump den ausgewiesenen Klimaleugner Scott Pruitt, der als Generalstaatsanwalt in Oklahoma Dutzende von Verfahren gegen Unternehmen aussetzte, die wegen hoher Emissionen belangt werden sollten.

Das nennt man wohl den Bock zum Gärtner machen, und dieses Lehrstück der Zerstörung wissenschaftlicher Unabhängigkeit ging weiter, indem dreizehn von achtzehn Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates der EPA entlassen oder nicht verlängert wurden. Ihre Plätze nahmen Vertreter von Industriebranchen ein, die umweltrechtlich am stärksten reguliert gehören. Solche Maßnahmen hat sich noch kein US-Präsident getraut, George W. Bush eingeschlossen. Trump geht es, wie der Wissenschaftsjournalist Stéphane Foucart schreibt, nicht nur darum, Forscher daran zu hindern, unbequeme Erkenntnisse (oder Wahrheiten) zu kommunizieren, er will ausschließen, dass solche Erkenntnisse überhaupt hervorgebracht werden. „Man versucht nicht mehr zu kontrollieren, was die Laboratorien verlässt, man schließt sie.“

Man darf kaum annehmen, dass sich Trump für Wissenschaft interessieren würde. Interessiert ist er an seinem Image als Retter US-amerikanischer Arbeitsplätze in Industrien, die einer konsequenten nationalen und globalen Klimapolitik angeblich im Wege stehen, und daran, sich als Bannerträger des „America first!“-Unilateralismus zu profilieren, der sich an internationale Abkommen nicht gebunden fühlen muss. Beides wird übrigens scheitern, weil man die Pariser Klima-Ziele auch mit einzelnen US-Bundesstaaten (wie Kalifornien) und Partnern wie China erfüllen kann, und weil eine protektionistische Industriepolitik Arbeitsplätze eher vernichtet. Vor allem aber ist es moralisch absolut verwerflich, um persönlicher Machtinteressen und kurzfristiger Profite willen Menschheitsinteressen und Zukunftschancen künftiger Generationen aufs Spiel zu setzen.

Diesem Angriff werden wir uns nicht widerstandslos ergeben. Der March for Science am Earth Day, dem 22. April 2017, setzte in 600, darunter 22 deutschen Städten ein deutliches Zeichen, das auch Wissenschaftsmanager zu einem politischen Engagement veranlasste, das sie normalerweise scheuen Doch wurden aus diesem Anlass zu Recht selbstkritische Stimmen laut, die davor warnten, in Abwehr postfaktischer Verdrehungen den aktuellen Zustand der Forschung, der Universitäten und der Wissenschaft zu idealisieren. Auch ohne Trumps Attacke bestehen genug Mängel, und der platte Verweis auf Daten und Fakten wäre ein bedauerlicher Rückfall in einen überholten Positivismus.

Zeitgleich machten französische Nobelpreisträger auf Gefahren für die Freiheit der Forschung aufmerksam, die sie in den Programmen nicht nur Marine Le Pens, sondern auch des linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon sahen. Eine Verstaatlichung des Wissenschaftssystems ist ebenso nachteilig wie seine Auslieferung an die Markt- und Unternehmensrhetorik; an beides knüpft übrigens die populistische Propaganda gegen Forscher an, die angeblich vom Staat bezahlt sind oder als Sprachrohr privater Interessen auftreten.

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Die Herabsetzung wissenschaftlicher Erkenntnis zur beliebigen Meinung ist nicht der einzige Angriff auf Errungenschaften, die für die aufgeklärte Moderne so zentral waren. Unter Beschuss liegen wie gesagt auch die Einrichtungen, in denen Wissenschaft betrieben wird. Das zeigte sich zuletzt in den Suspendierungen und Berufsverboten an türkischen Universitäten, von denen über 2.000 Personen betroffen gewesen sein sollen. Der völlig aus der Luft gegriffene Vorwurf des Staatspräsidenten Erdogan war meist die Zugehörigkeit zur „Gülen-Bewegung“ oder zu einer kurdischen „Terrorgruppe“, das leicht zu durchschauende Ziel, kritisches Denken auszumerzen und unabhängige Geister zum Schweigen zu bringen.

Die Bespitzelung geht mitten unter uns weiter, wenn türkische Wissenschaftler an europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen vor Repressalien Schutz suchen. Das mag Türken und Deutsche daran erinnern, wie in den 1930er Jahren vom Nationalsozialismus vertriebene Forscher auch in der Türkei Zuflucht fanden. Der Aderlass nach 1933 ist treffend als „Zerstörung einer Zukunft“ (Mathias Greffrath) charakterisiert worden, deren Wiederholung an vielen Orten der Welt droht, wo Kriegsereignisse und Autokratien Zukunft zerstören, indem sie den freien Geist denunzieren, enteignen, ausschalten.

Auch liberale Demokratien sind gefährdet. Nach dem von Trump dekretierten „Muslim (Travel) Ban“ gegen Einreisende aus sechs islamischen Ländern protestierten 48 Uni-Präsidenten: „Amerikas Universitäten haben in der langen Geschichte unseres Landes enorm von der Aufnahme von Einwanderern profitiert. Ihre Innovationen und ihr Forschergeist haben das amerikanische Wissen beflügelt, zu unserem Wohlstand beigetragen und unsere Kultur bereichert.

Viele Exilanten, die in ihre Länder zurückgekehrt sind, haben Werte mitgenommen, die den Lebensnerv der Demokratie bilden. Amerikas Führungsposition in der Bildung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst hängt von der Fähigkeit ab, weiterhin jene außergewöhnlichen Talente anzuziehen, die über viele Generationen in unser Land gekommen sind auf der Suche nach Freiheit und einem besseren Leben.“ Trotz der Proteste gegen das gerichtlich verhinderte Einreiseverbot arbeitet die Trump Administration weiter an Beschränkungen.

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An der Stelle darf man nicht verschweigen, wie unfrei ein großer Teil der Forschung in autoritär regierten Schwellen- und Entwicklungsländern ist, die einer fatalen Mischung aus Marktgängigkeit und Staatsaufsicht unterliegt. Die zahlreichen Kooperationen, die westliche Forscher im „globalen Süden“ eingegangen sind, übergehen das meist, aus „postkolonialer“ Zurückhaltung oder um der Reputation willen, die solche Partnerschaften im globalen Wettbewerb bringen. Die Repressalien, welche die chinesische Regierung an Hongkongs Universitäten und Forschungseinrichtungen ausübt, sind nicht schweigend hinzunehmen.

In vielen Schwellenländern sind das europäische Universitätswesen und Forschungssystem allein in seiner technokratischen Variante aufgenommen worden, es fehlt häufig der notwendige freiheitliche Unterbau, der – geben wir es zu – auch in Europa oft zur bloßen Rhetorik verkommen ist. Europäische Universitäten müssen besser die Balance wahren zwischen ihren mindestens drei historischen Aufgaben: der Kritik gesellschaftlicher Zustände, der Ausbildung einer möglichst großen Zahl befähigter junger Menschen und der exzellenten Forschung, auf die sich Ressourcen, Image und Aufmerksamkeit in letzter Zeit zu stark fokussiert haben.

Wissenschaft ist, im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 GG, in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts „jede Tätigkeit, die nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“. Wissenschaftsfreiheit ist ein subjektives Abwehrrecht für jedermann mit denkbar weitem Schutzbereich aller „geistige(n) Tätigkeit mit dem Ziel, in methodischer, systematischer und nachprüfbarer Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen“. Gewährleistet werden soll so die freie, von staatlicher Einmischung ungestörte Wahl der Forschungsgebiete, ihre Durchführung und die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Der Staat ist überdies verpflichtet, wissenschaftliche Forschung an Hochschulen zu ermöglichen und ihre freie Ausübung auch gegen Eingriffe Privater zu schützen. Analog heißt es in der Grundrechtecharta der Europäischen Union: „Kunst und Forschung sind frei. Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Es stünde der EU gut an, dies angesichts der Lage zu einer politischen Initiative zu bündeln, die den Mitgliedsstaaten eine rote Linie vorgibt, jenseits derer die Behinderung freier Forschung nicht toleriert und ein Vertragsverletzungs-Verfahren eingeleitet wird.

Das jüngste Beispiel für einen massiven Verstoß dagegen ist Ungarn. Die Regierung Orbán setzt die Central European University (CEU), eine internationale Privatuniversität von Rang mit Studierenden und Wissenschaftlern aus der ganzen Welt und führend im ungarischen Hochschulwesen, schwer unter Druck. In einem Hochschulgesetz, das leicht als Lex CEU zu durchschauen ist, wird gefordert, die Universität müsse einen Campus in den USA eröffnen und dort einen Studienbetrieb unterhalten, wenn sie ihre Zulassung behalten wolle; im Oktober 2017 soll die Betriebserlaubnis gekündigt werden, so dass die CEU ab dem 1. Januar 2018 keine neuen Studierenden mehr aufnehmen dürfte. CEU-Präsident Michael Ignatieff, ein renommierter kanadischer Forscher, versucht dies in Verhandlungen noch abzuwenden.

Solidaritätsadressen aus der akademischen Welt, der Beschluss des EU-Parlaments, ein Vertragsverletzungs-Verfahren gegen Ungarn einzuleiten, und massive Proteste in Ungarn selbst dürften Orban überrascht haben. Am 9. April 2017 demonstrierten Tausende Menschen, darunter nicht nur Studierende und Lehrkräfte für die Wahrung der akademischen Freiheiten in Ungarn. Denn man hat begriffen: Orbans Ziel ist, an einer ihm zu unabhängigen Institution ein Exempel zu statuieren und sie unter staatliche Kontrolle zu bringen, wie dies seit Jahren mit dem gesamten akademischen und künstlerischen Betrieb in Ungarn versucht wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist jedes Mittel recht, hier die antisemitische Denunziation des wichtigsten CEU-Gründers und Sponsors, des New Yorkers, aus Ungarn stammenden (und jüdisch-stämmigen) Finanzmagnaten George Soros.

Weniger dramatisch, aber auch nicht ohne Risiko für eine weltoffene Studien- und Forschungslandschaft ist der Brexit, der Kooperationsmöglichkeiten britischer mit anderen europäischen Universitäten verkompliziert und die Mitwirkung an EU-Förderprogrammen von Erasmus bis Horizon 2020 erheblich erschweren könnte. Nicht zufällig gab es die meisten „Remain-Stimmen“ in Universitätsstädten, wo der Wert der europäischen Integration existenziell ist und hoch geschätzt wird. Die Leave-Kampagne hat sich diese Verteilung zunutze gemacht und den intellektuellen „Eierköpfen“ mit Stimmen überwiegend älterer Briten eine Lektion erteilt. Nun ist darauf zu achten, wie man den akademischen Austausch möglichst unbeschadet in die Phase nach zwei Jahren Verhandlungen herüberrettet.

Die Beispiele belegen den Zusammenhang des autoritären Nationalismus mit der Wissenschaftsfeindlichkeit, die analog die Künste, das Theater, die avancierte Literatur und natürlich die Qualitäts-Medien betrifft. Diese Akteure könnte man für die schwächsten Glieder in der Kette von Widerstandsakten halten, doch treffen Populisten hier, neben einigem Opportunismus und viel Elfenbeinturm, auf die wohl härtesten Kämpfer, die international gut vernetzt sind.

Voraussetzung ist, das freie Geistesleben in Europa, wo man es nach 1945 bzw. 1990 für gegeben und garantiert hielt, wieder als Wert an sich wertzuschätzen und zu verteidigen. Es muss klarer werden, dass, wer Universitäten und die Wissenschaftsfreiheit angreift, nicht Privilegien einer schmalen akademischen Elite attackiert, sondern die Substanz der Freiheit. Dazu muss man selbstkritisch bedenken, dass diese auch in liberal-demokratischen Gesellschaften durch übermäßige Politisierung, karikaturhafte Sprachregelungen politischer Korrektheit und namentlich durch kommerzielle Zugriffe oder übermäßige Verregelung in Gefahr geraten kann.

Dass die Freiheit nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht ist, zeigen jüngste Vorfälle an einer Reihe amerikanischer Universitäten und jüngst an der Humboldt Universität Berlin, bei denen an Universitäten Sprechverbote verhängt und akademische Lehrende wegen unbequemer Positionen persönlich attackiert wurden. „No platforming“ war die eine Parole – „Rechten“ keine Plattformen bieten, damit sie menschenfeindliche Aussagen machen können, „safe spaces“ der andere Schlachtruf, an dem Studierende vor sogenannten Mikroaggressionen beschützt werden sollten, die ihre moralischen Gefühle verletzten könnten. Die Universität und die freie Forschung sind aber kein „sicherer Hafen“ und sie müssen Plattformen für jede Position bieten, solange sie nicht massiv in die Rechte anderer eingreift. Und vor allem müssen berechtigte Protest-Anlässe, etwa die geringe Zahl afro-amerikanischer Lehrender, hochschulöffentlich diskutabel bleiben und nicht durch Niederbrüllen, Hexenjagden und gar physische Attacken unmöglich gemacht werden.

Für Betroffene macht es keinen Unterschied, ob sie von einer Meute rechtsradikaler Identitärer oder einer Kampf truppe von Trotzkisten am Reden gehindert werden, und für das System Wissenschaft und die Forschungs- und Lehrgemeinschaft Universität sind beide Attacken gleich bedrohlich. Christ Patten, ehemaliger britischer Gouverneur in Hongkong und derzeit Kanzler der Oxford University, beschreibt die Rolle der Universitäten zutreffend so: „... den Zusammenstoß der Ideen zu fördern, die Ergebnisse der Forschung mit anderen Forschern zu testen, und neues Wissen an Studierende weiterzugeben. Redefreiheit ist deshalb die Grundlage, auf der Universitäten existieren...“  Dazu bedarf es, wenn man einen außer Mode gekommenen Ausdruck des durchaus aktuellen Philosophieprofessors Immanuel Kant ausgraben darf, der Umgangstugenden, nämlich der „Zugänglichkeit, der Gesprächigkeit, der Höflichkeit, Gastfreiheit, Gelindigkeit (im Widersprechen, ohne zu zanken)“.

Voraussetzung des akademischen wie politischen Dialogs ist eine diskursive Ethik, die Streit keineswegs ausschließt, aber ein Prinzip der wohlwollenden Interpretation verfolgt, das Ideen, gegen die man argumentiert, im bestmöglichen Licht darstellt. Davon ist der akademische Alltag und erst recht der politische Betrieb oft meilenweit entfernt. Die akute Bedrohung der freien Meinungsäußerung, die inflationäre Verbreitung pseudo-wissenschaftlicher fake news, die Angriffe auf Wissenschaftsinstitutionen und individuelle Forschende sollten deshalb selbst Gegenstand jeder guten wissenschaftlichen Ausbildung sein.

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Pessimistisch möchte ich nicht enden, dafür gibt es keinen Grund. Wenn „alles möglich“ ist, wie man derzeit oft zu hören bekommt, kann das nicht nur das Schlechteste meinen. Eine wissenschaftstheoretische Errungenschaft der Kulturwissenschaften war die Abkehr von Idealen des Determinismus und des Probabilismus. Den Geist der Zeit um 1900 fängt sehr gut Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, der eine schöne Definition des Möglichkeitssinns bietet: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ Diese Sensibilität findet sich zeitgleich in der Schule der Humangeographie bei Paul Vidal de la Blanche und anderen wie in einer Spielart des reformistischen Sozialismus im Frankreich der III. Republik, die sich beide den Namen „Possibilismus“ geben. Neuerdings hat er in der Risiko- und Katastrophenforschung Platz gegriffen, aber es gibt vor allem einen Sozialwissenschaftler, Albert O. Hirschman, der ihn prominent besetzt hat.

Während Soziologen und Ökonomen sich in seinen Augen eine Welt des Probabilismus geschaffen hatten und die (Un)wahrscheinlichkeit von Ereignissen und Effekten erkundeten und bis heute überwiegend von Pfadabhängigkeiten und Teufelskreisen sprechen, geht es Possibilisten darum, kühl und nüchtern zu erkunden, wo Pfade verlassen werden können, wo sich Nebenstrecken auftun und wie man unselige Zyklen aufbrechen kann. Nur dazu, fand Hirschman, war man eigentlich Gelehrter, der damit das Glück verarbeitete, dem ihm als Berliner Juden zugedachten Schicksal entkommen zu sein. Es ist aber nicht nur die Lebensgeschichte des Exilanten, die Hirschman mit seinem Buchtitel „Crossing Boundaries“ darlegen wollte, sondern auch die anfangs im wissenschaftlichen Abseits erzwungene Interdisziplinarität (Lateinamerika), die Überschreitung von Zeit-Grenzen und lebensweltlicher Pragmatismus beziehungsweise Reformismus.

Möglichkeitsmensch sein – wäre das heute ein Luxus? Eine postfaktische Aberration gegen die Wirklichkeit des Unglücks und die Härte der Expertisen? Nein, und schließen wir mit Musil: „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muß man die Tatsache achten, daß sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“

Pressekontakt:
Miriam Wienhold (KWI), Tel. 0201/72 04-152, miriam.wienhold@kwi-nrw.de,
http://www.kulturwissenschaften.de

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