Julia Schwanholz
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Dr. Julia Schwanholz zu 75 Jahre Grundgesetz

In guter Verfassung

  • von Ulrike Bohnsack
  • 22.05.2024

Das deutsche Grundgesetz feiert Jubiläum: Vor 75 Jahren, am 23. Mai 1949, wurde es in Bonn unterzeichnet. Wir haben mit der UDE-Politikwissenschaftlerin Dr. Julia Schwanholz darüber gesprochen, wie stabil und zeitgemäß unsere Verfassung ist.

Frau Schwanholz, Sie sagen: Das Grundgesetz ist ein großartiges Buch. Was begeistert Sie daran?
Das Grundgesetz ist nach dem Zweiten Weltkrieg in relativ kurzer Zeit entstanden. Das allein schon ist eine große Leistung. Es war damals ein Werk, das für den Übergang bestimmt war, aber es ist bis heute unser Fundament für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Die Prinzipien der Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Gleichheit sind enorm wichtig, und nach 75 Jahren wissen wir, dass sich das Grundgesetz bewährt hat.

Faszinierend finde ich vor allem seine klare Sprache. In knappen, prägnanten Sätzen sind die meisten Artikel verfasst. Einesteils kommt das Grundgesetz in seiner ursprünglichen Fassung schnörkellos daher, andernteils bleibt genügend Spielraum für Interpretationen. Und das braucht es ja auch in einer vielfältigen, sich wandelnden Gesellschaft. Ich finde, das Grundgesetz ist ein meisterliches Buch, das es lohnt, immer wieder zur Hand zu nehmen und aufmerksam darin zu lesen.

Welchen Artikel im Grundgesetz finden Sie persönlich am wichtigsten?
Im Grundgesetz sind alle Artikel wichtig. Denn sie bilden als Gesamtwerk die Grundlage für die Rechtsordnung und die Funktionsweise unseres Staates. Besonders wichtig sind Artikel 1 bis 19 GG als Bürger- und Menschenrechte. Gerne hebe ich aber Artikel 1 hervor, weil er die Würde des Menschen garantiert und das dieser Tage besonders wichtig ist:

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt," Art. 1, Abs. 1 GG.

Dieser Artikel ist so bedeutsam, weil er die Grundlage für alle weiteren Rechte und Pflichten bildet. Er betont die unveräußerlichen Rechte jedes einzelnen Menschen, unabhängig von Geschlecht, Religion, Nationalität oder sozialem Status. Die Würde des Menschen bildet das Fundament einer freien Gesellschaft.

Wozu dient der so genannte Europa-Artikel?
Artikel 23 des Grundgesetzes dient dazu, die Beteiligung Deutschlands an der Europäischen Union rechtlich festzulegen. Deutschland hat einerseits Souveränitätsrechte auf die EU übertragen und trägt somit zu einem vereinten Europa und einer europäischen Gemeinschaft bei. Umgekehrt geht aus Artikel 23 Abs. 2 GG aber auch hervor, dass Bundestag und Bundesrat frühzeitig über alles, was auf der supranationalen Ebene passiert, zu unterrichten sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung an diesen Inhalt des Artikels 23 Abs. 3 schon mehrfach erinnert und damit die Rechte des nationalen Gesetzgebers in Deutschland gestärkt. Das ist angesichts einer immer wieder aufkommenden Diskussion eines Demokratiedefizits der EU durchaus richtig und wichtig.

Ein alter Vorwurf ist: Das Grundgesetz sei eine Schönwetterverfassung. Hat es sich bewährt, oder steht uns die Bewährungsprobe vielleicht erst noch bevor?
Ich würde heute sagen: sowohl als auch. Wir hatten ja bereits herausfordernde Zeiten in den 75 Jahren der Bundesrepublik. So sind unter anderem die Notstandsgesetze von 1968 entstanden. Die Notstandsverfassung bietet für bestimmte Ausnahmezustände, wie einen Verteidigungsfall, rechtliche Klarheit. Für andere Fälle hingegen nicht. Die Corona-Pandemie als epidemischer Notstand war ein neuer, einzigartiger Fall. Andere Bewährungsproben stehen uns gewiss erst noch bevor. Ich denke an die zunehmende Komplexität globaler Herausforderungen, wie beispielsweise Klimawandel, Digitalisierung und geopolitische Spannungen, alte und neue bewaffnete Konflikte. Es ist eine Binsenweisheit, dass die Zukunft zeigen wird, wie gut das Grundgesetz für künftige Anforderungen gerüstet ist; eine reine Schönwetterverfassung ist das Grundgesetz gewiss nicht.

Einige Artikel sind durch die Ewigkeitsgarantie geschützt: zum Beispiel Artikel 1 zur Menschenwürde und Artikel 20 zur Staatsform. Reicht das, um die Demokratie auch für die Zukunft zu sichern?
Wenn Sie damit meinen, die Demokratie zukunftssicher gegen die demokratiefeindlichen Vorhaben von Extremisten zu machen, so lautet die Antwort: Nein, die Demokratie kann in Form geschriebener Worte niemals stark genug sein, um gegen ihre Feinde zu bestehen. Demokratie muss stets gelebt und auch aktiv verteidigt werden. Das können nur Menschen tun, dazu braucht es Demokratinnen und Demokraten. Das bedeutet auch, Demokratie nicht nur als eine Staatsform zu begreifen, sondern ebenso als eine Kulturtechnik. Demokratisch zu leben, muss also heißen, sich auch für andere einzusetzen, mitzumachen und aufzustehen. Wenn das eine Ausdrucksform findet, wie jüngst im Januar und Februar dieses Jahres, als alle Generationen auf die Straße gingen, um gegen Extremismus und Fremdenhass zu demonstrieren, wird Demokratie lebendig.

Das Grundgesetz wurde in analogen Zeiten entworfen. In den letzten 75 Jahren hat es aber tiefgreifende gesellschaftliche und technologische Veränderungen gegeben. Ist das Grundgesetz noch zeitgemäß?
In den vergangenen 75 Jahren hat sich die Gesellschaft insbesondere durch technologischen Fortschritt verändert. Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung abgeleitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2, Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1, Abs. 1 GG). Das Grundgesetz beinhaltet hingegen keine expliziten Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter oder zur Regulierung sozialer Medien. Dies ist in entsprechenden Gesetzen geregelt. Trotzdem ist zu hinterfragen, inwiefern unser Grundgesetz auch weiterhin zeitgemäß ist und ob es notwendig wird, Anpassungen vorzunehmen. Angesichts neuer gesellschaftlicher Realitäten und der rasanten Verbreitung generativer KI muss dies eine fortlaufende Diskussion sein, die gesamtgesellschaftlich zu führen ist.

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