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Mehr als nur Erinnerungen

Mechanismen neurologischer Erkrankungen verstehen

  • von Juliana Fischer
  • 04.09.2023

Gefahren einschätzen, aus Fehlern lernen, gute Entscheidungen treffen: Unsere Erinnerungen sind mehr als ein Archiv der Vergangenheit. Sie bestimmen unser zukünftiges Denken und Handeln. Im Gespräch erläutert Prof. Dr. Ulrike Bingel, wie sie die Mechanismen, die im Gehirn Vergangenheit und Zukunft verbinden, untersucht und neue Therapieansätze für chronische Erkrankungen erforscht.

Frau Prof. Bingel, Sie untersuchen, inwiefern kognitive Prozesse wie etwa Erinnerungen und Erwartungen körperliche Vorgänge beeinflussen. Wie wichtig sind denn vergangene Erfahrungen für unser zukünftiges Denken und Handeln?

Evolutionär gesehen hat sich das menschliche Gehirn wahrscheinlich nur entwickelt, um unsere körperlichen Funktionen zu kontrollieren, bestmöglich der Umgebung anzupassen und um ein bisschen in die Zukunft zu schauen. Bei der Gefahrenabschätzung z.B. sind Erfahrungen und Erinnerungen daran ganz entscheidend. Wenn ich nicht lernen kann "oh, wenn ich diese rote Beere esse, wird mir schlecht", meide ich sie künftig nicht. Diese Erinnerung ist nicht per se wichtig, sondern sie ist wichtig, um abzuleiten, was durch meine zukünftigen Handlungen passiert. Der Wert von Erinnerungen und Lernprozessen liegt also darin, die Zukunft vorherzusagen.“

Der Grund für viele Erkrankungen wird in der Vergangenheit eines Menschen, z.B. in der Kindheit gesucht. Können Sie erklären, welche Mechanismen sich bei solchen Erkrankungen in Gehirn und Verhalten abspielen?

Die Art und Weise, wie Erlebtes das in die Zukunft gerichtete Denken beeinflusst, ist bei vielen psychischen Erkrankungen verändert. Aber auch bei der Chronifizierung von Schmerzen spielt das Gedächtnis eine große Rolle. Viele Rückenschmerzpatient:innen lernen, bestimmte Bewegungen zu meiden und so entsteht Angst vor Bewegung. Die Rückengesundheit wird durch die Angst vor Bewegung aber immer schlechter. Die ‚kognitive Chronifizierung‘ trägt tatsächlich irgendwann mehr zu den Schmerzen bei, als ein tatsächlicher Gewebeschaden.

Nun wollen sie die Mechanismen in Gehirn und Körper identifizieren, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart Erkrankungen auslösen. Wie lässt sich das denn messen?

Das geht nur interdisziplinär und auf verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen. Räumlich im Sinne des gesamten Körpers, von den Molekülen und der Einzelzelle bis hin zur systemphysiologischen Ebene. Wenn wir uns die Zeitebenen anschauen, sprechen wir von Millisekunden bis hin zu Dekaden. Beispielsweise in der Trauma-Forschung liegen die Pathomechanismen teilweise Jahrzehnte zurück. Außerdem müssen interdisziplinär Grundlagenforschende und Kliniker:innen zusammenarbeiten - und zwar aus den Bereichen Neurologie, Psychologie, Informatik und Philosophie.

Wie kommen Sie an so umfangreiche Daten?

An der UDE und der Ruhr-Universität Bochum bauen wir auf einen großen Erfahrungsschatz in der neurowissenschaftlichen und psychologischen Forschung auf. Daher können wir Daten von tausenden von Patient:innen aus dem  Bochumer Zentrum für mentale Gesundheit analysieren. Das ist eine große Kohorte, die schon ganz hervorragend charakterisiert ist. An der UDE können wir auf das Zentrum für Schmerzmedizin zurückgreifen, das schon lange national und international sichtbar ist in der translationalen Forschung. Gerade die Verzahnung von Grundlagenwissenschaften und der klinischen Forschung in ausgewählten Gruppen von Patientinnen und Patienten ist entscheidend, um unsere Forschungsziele zu erreichen.

Können Sie ein Beispiel für eine experimentelle Studie geben?

Um herauszufinden, wie das Gehirn auf Stress reagiert, lösen wir Stress in einer gesunden Kohorte aus. Das geht ganz einfach, indem man den Teilnehmenden vor laufender Kamera schwierige Matheaufgaben lösen lässt. Da kommen auch die schlausten Teilnehmenden ins Schwitzen. Gleichzeitig erfassen wir Stress auf der körperlichen Ebene und untersuchen, wie bspw. die Ausschüttung von verschiedenen Stresshormonen das zukunftsgerichtete Denken beeinflusst. Dabei kommen auch anspruchsvolle bildgebende Techniken zur Anwendung, wie das 7T Gerät am Erwin L. Hahn Institut. Besonders interessant und relevant wird es natürlich, wenn man sich Wechselwirkungen zwischen akuten Stressoren und chronischem Stress in Patienten ansehen kann.

Ist es möglich, aus dieser Forschung auch neue Therapien zu entwickeln?

Das Verständnis von Grundlagen ist immer der Ausganspunkt für die Entwicklung von Therapien. Wenn wir identifizieren können, an welcher Stelle zwischen der Erinnerungsbildung und der Sicht auf die Zukunft bspw. Patient:innen mit Depressionen ein besonderes Problem haben und wenn wir herausfinden, wann der richtige Zeitpunkt für eine Intervention ist, können wir Therapien entwickeln - pharmakologisch und psychotherapeutisch. Im Idealfall können auf den Einzelnen zugeschnittenen Therapieformen entwickelt werden.

Nun sind Sie auch eine führende Expertin in der Placeboforschung und Sprecherin des SFB Treatment Expectation. Was passiert denn genau im Körper, wenn der Placeboeffekt eintritt?

Der Placeboeffekt geht einher mit der Aktivierung einer körpereigenen Apotheke. Der Schmerz wird gelindert, weil körpereigene Substanzen ausgeschüttet werden, zum Beispiel endogene Opioide. Das ist für den Schmerz schon sehr gut verstanden, für andere Bereiche nicht so sehr, darum konzentrieren wir uns im SFB Treatment Expectation auch auf die Mechanismen jenseits des Schmerzes.

Kann der Placeboeffekt auch zu Therapiezwecken genutzt werden?
Unbedingt. Bisher wird er hauptsächlich in der Schmerztherapie eingesetzt. Da ist schon vieles verstanden, etwa das eine gute Ansprache durch das medizinische Personal eine positive Erwartung hervorrufen kann und das Medikament anschließend nachgewiesenen Maßen besser wirkt. Aber es gibt auch schon Erkenntnisse darüber, dass der Placeboeffekt in der Chirurgie eine Rolle spielt. Ein Kollege aus Marburg hat gezeigt, dass die Erwartungen der Patient:innen vor einer Herz-OP einen großen Einfluss darauf haben, wie es den Patient:innen bis zu einem Jahr nach dem Eingriff geht.

Welchen wissenschaftlichen Durchbruch wünschen Sie sich?
Der größte Erfolg wäre für mich, wenn der Placeboeffekt als Chance begriffen werden würde und das Verständnis der Mechanismen von Erwartungseffekten dazu führt, dass diese systematisch in die Behandlung integriert werden würden. Dafür spielt die Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen eine zentrale Rolle. Das hätte weitreichende Implikationen im Gesundheitssystem, bis hin zur Vergütung des ärztlichen Gesprächs. Wir wissen beispielsweise, dass die Wirkung von Schmerzmedikamenten sich verdoppelt, einfach nur, wenn ich weiß, dass ich gerade eine Schmerztablette einnehme. Gut zu kommunizieren ist also nicht nur B-Note, sondern sollte ein zentraler Teil der Therapie sein, da es einen direkten Einfluss darauf hat, wie gut ein Medikament (oder eine andere medizinische Maßnahme) wirkt. Ein weiterer großer Durchbruch wäre die systematische Berücksichtigung von Erwartungseffekten in klinischen Studien. Hier könnte man viele Seiten der Pharmakologiebücher neu schreiben, wenn man Wechselwirkungen der 'inneren Apotheke' und Medikamenten wirklich berücksichtigt.

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